Andre Rotzetter, Grossrat des Kantons Aargau

Was ist Heimat?

1. Augustansprache 2019 in Buchs

Sehr geehrte Mitglieder der Gemeindebehörde
Geschätzte Buchserinnen und Buchser
Liebe Festgemeinde

Die Einladung zur 1. Augustfeier in Buchs hat mich gefreut und ich habe sie gerne angenommen. Denn Buchs ist meine Heimat geworden. Meine heutige Rede ist eine persönliche Annäherung zum Thema Heimat und lädt Sie ein, sich eigene Gedanken dazu zu machen. Sie werden schnell merken, dass Heimat für mich sehr viel mit Beziehungen zu tun hat. Zu Menschen, zu Orten und zu sich selber.

Meine Sommerferien verbrachte ich auf der Goppisbergeralp. Diese Alp liegt zwischen der Riederalp und der Bettmeralp. Die Riederalp ist seit 30 Jahren so etwas wie meine 2. Wahlheimat. Als wir in diesem Jahr auf der Riederalp angekommen sind, stellten wir fest, dass unser LieblingsRestaurant, die Alpenrose, verkauft wurde und nun für 2 Jahre geschlossen ist. Bei einer grösseren Wanderung wollten wir auf der Riederfurka etwas trinken gehen. Es war zum ersten Mal in den Sommerferien nicht möglich, da alle drei Restaurant gleichzeitig geschlossen waren. Es scheint ein Umbruch stattzufinden. Und es war spürbar, andere Menschen haben nun das Sagen.

So haben wir uns eher Richtung Bettmeralp ausgerichtet. Dort war ein Openair Kinoabend in einem Restaurant angesagt. Ein Kellner hatte auf Eigeninitiative während den Betriebsferien des Restaurants einen Kinoabend organisiert. Es war die erste Aufführung und die Technik hat nicht reibungslos funktioniert. Wir sassen nach dem Film noch länger mit dem Kellner am Tisch. Er war untröstlich. Er wollte doch für seine Bettermalp etwas machen und mal was Neues anbieten. Und nun so etwas. Sein Satz: Hätte ich doch besser meine Ferien genossen, klang noch lange nach.

Der Film zeigte die Entwicklung der Bettmeralp, die von mausarmen Bergbauern im Sommer bewohnt war, bis heute zu einem hochmodernen Tourismusort. Eindrücklich die Schilderung, wie vor 1950 die Bergbauern Kräuter gesammelt und diese im Konsum abgegeben haben. Dort haben sie auch das Notwendigste eingekauft. Zu mehr hat es nicht gereicht. Bezahlt wurde nicht bar, sondern es wurde aufgeschrieben. Ende Jahr wurde abgerechnet. Besonders eindrücklich die Schilderungen, wie einige Familien zu wenig Geld hatten, um die Schulden zu begleichen. Schlimm war es, wenn sie für die Schuldenbegleichung ihre einzige Kuh verkaufen mussten. Das war vor 70 Jahren und nicht im Mittelalter.

Ich kenne diese Geschichten selber noch von meinem Vater. Denn ich stamme von einer Bergbauerfamilie aus dem Freiburgischen ab, die im Sommer auf die Alp ging. Auch meine Grosseltern mussten drei Mal ihre einzige Kuh abgeben. Eine existenzielle Katastrophe ohne staatliches Auffangnetz.

Über Generationen haben meine Vorfahren auf der gleichen Alp gehirtet. Diese Alp ist für mich zur Symbol der persönlichen Heimat geworden. Ich habe mich gefragt, wie dieses Heimatgefühl entstehen konnte. Haben Sie sich auch schon mal gefragt, wie ihr Heimatgefühl entstanden ist?

Auf dieser Alp steht auf einer Anhöhe das Rotzetter-Kreuz. Dort feiert meine Familie einmal im Jahr einen Alpgottesdienst. Meistens werde ich dabei nachdenklich und sentimental, denn die Geschichten meiner Eltern und Grosseltern kommen mir in den Sinn; die bittere Armut und das harte Leben, das sie führten. Diese Verhältnisse können wir uns heute kaum mehr vorstellen. Meine Mutter sagte mit 102 Jahren nicht mehr viel. Aber immer wieder sagte sie ein Spruch, der so anfängt: Not bricht Eisen, das kann ich euch beweisen. So ist es nicht verwunderlich, dass mich die Armut der Grosseltern und die Verbundenheit meines Vaters zu dieser Alp prägten. Mein Vater war tief im Herzen ein Hirt. Doch die Not hat ihn als ältester Sohn nach dem Tod der Mutter von der Alp vertrieben. Als Grenzwächter verdiente er schliesslich Geld und konnte seiner Ursprungsfamilie ein Leben ohne Hunger ermöglichen. Aber seine Sehnsucht nach der Heimat, also nach dieser Alp, war sehr gross. Deshalb gingen wir als Familie, wenn immer möglich, auf die Alp und halfen unseren Onkeln beim Hirten. So kam es, dass ich die ersten sieben Sommer meines Lebens auf dieser Alp lebte. Mein ursprüngliches Heimatgefühlt entwickelte sich auf dieser Alp. Entscheidend war aber die emotionale Ausrichtung des Lebens meines Vaters und somit der Familie zu diese Alp. Noch heute spüre ich die Prägung in meiner Einstellung zum Leben.

Nebst den Geschichten meiner Vorfahren ist mir bei einer Fahrt zum Alpgottesdienst vor paar Jahren noch ein zweiter Gedanke zu Heimat gekommen: Ein Gedicht des Philosophen Carl Peter Fröhling(*1933) bringt diesen Gedanken auf den Punkt:

"Der Vogel kehrt zurück, sucht sein altes Nest und findet es wieder. Der Mensch aber kehrt zurück, erblickt sein Vaterhaus und findet nicht mehr heim."

Trotz der Erinnerungen an meine frühe Kindheit, fühle ich mich heute auf dieser Alp irgendwie fremd. Im Alter von 20 Jahren habe ich meine Heimat verlassen, um zu studieren. Die Menschen, die heute auf der Alp wohnen, sind keine Rotzetters mehr. Ich kenne sie nur vom Sehen her. Dass dieser Ort für mich gleichzeitig Heimat und Fremdheit ist, zeigt mir, dass es mit der Heimat nicht so einfach ist. Das Heimatgefühl ist nicht nur an den Ort gebunden, an dem ein Mensch geboren wird und wo Er oder Sie die frühen Kindheitserfahrungen macht. Das Heimatgefühl entwickelt sich im Verlauf des Lebens weiter. So entstehen mehrere Heimatgefühle in einer Person. Bei mir entstand eins, welches sich mit der Herkunft meines Vaters und meiner Mutters verbindet. Ein anderes, das sich mit dem heutigen Leben verbindet. Eine wichtige Erkenntnis ist: verlässt jemand seine erste Heimat nicht freiwillig, entwickelt er oder sie und die nachkommende Generation ein spezielles Gefühl zu diesem Ort. Dies konnte ich bei meinem Vater und bei mir miterleben. Heute fühle ich mich im Aargau daheim. Ich habe mir in Buchs mein Haus so gestaltet, dass es mir wohl ist. Vor allem der Garten trägt dazu bei, weil er eine Wildheit ausstrahlt, die ich liebe. In ihm fühle ich mich so richtig Draussen zu Hause. Mehr noch als der Ort, sind es aber die Menschen, die mir Heimat vermitteln. Meine Frau, meine Kinder, die Freunde, meine Nachbarn und meine Fussball - Kollegen beim FC Buchs.

Heimat entsteht also durch Gefühle, die ich zu Orten und Menschen entwickle. Es ist eine Herzensangelegenheit, für die ich bereit bin, mich zu engagieren. Heimat ist nicht etwas, was ich besitze, sondern etwas, das ich gestalte und lebenswert mache. Heimat ist eben nicht statisch, sondern ein permanenter innerer Prozess. Dieser Prozess dauert ein Leben lang. Der Dichter Robert Kross beschreibt diesen Prozess so:

"Heimat ist nicht nur ein Wort
Heimat das bist Du und ich
Heimat ist nicht nur ein Ort
Heimat die ist innerlich
Heimat ist stets wo ich bin,
Schlägt in meinem Herzen
Heimat ist des Leben's Sinn;
Nicht ein Land mit Grenzen
Heimat ist woher ich kam; und wohin ich gehe
Heimat ist nicht fern noch nah
Heimat ist ganz einfach Leben;
Grenzenlos und unbeschwert
Ist der inner'n Stimme Beben
Das Gewissen das man hört
Seele ist die Heimat allen Lebens
Dieses sag' ich unumwunden
Alles Suchen ist vergebens
Hat man Heimat nicht in sich gefunden."

Was aber macht die Schweiz zur Heimat?
Der Sänger George singt: "Uf dr angere Syte vor Wäut, mues me si, das me weiss, das es Deheime eim a nütem fäut". Auch George bringt es auf den Punkt. Wir leben in einem wunderbaren Land in dem uns heute an nichts fehlt. Wieso ist das so?

Neben dem seit Generationen herrschenden Frieden und unserer Arbeitskultur spielt aus meiner Sicht noch etwas anderes eine Rolle. Wir haben eine einmalige politische Kultur entwickelt und haben eine starke Zivilgesellschaft aufgebaut. Zudem binden wir seit Generationen Andersdenkende und Minderheiten ein. Das führt zu stabilen Verhältnissen. Was ich damit konkret meine, kann ich anhand einer Anekdote mit meinem Vater verdeutlichen. In jungen Jahren war ich ein politischer Hitzkopf und es kam deshalb öfters mit meinem Vater zu heftigen Auseinandersetzungen. Einmal war wieder ein Abstimmungswochenende und ich war wieder auf der Seite der Verlierer. Ich zeigte meine Enttäuschung und meinte, dass es ja nichts nützt sich zu engagieren. Da sagte mir mein Vater: Wir leben nicht in der Diktatur der Mehrheit. Es ist zentral wie das Ergebnis ausfällt. Je nachdem werden die Gesetze und Verordnungen ausgestaltet und die Anliegen der Minderheit miteinbezogen. Ja, die Schweiz ist eine Willensnation und wir müssen dafür sorgen, dass der Grossteil der Bevölkerung, auch Minderheiten und Andersdenkende, berücksichtigt werden. Nur so erhalten wir den sozialen Frieden. Wenn ich heute unser politisches Gehabe und die politische Berichterstattung verfolge, habe ich manchmal das Gefühl, wir seien auf dem besten Weg diese spezifisch schweizerische Kultur aufzugeben. Schweizer-Sein hat für mich nicht so viel mit einem roten Pass zu tun, wegen dem mir Privilegien zustehen, sondern damit, wie stark der Einzelne, die Einzelne sich mit der Schweiz identifiziert und zu einem guten Leben für alle beiträgt.

Unsere Grosseltern und Eltern waren gefordert Hunger und Armut zu überwinden. Diese Generation hat es angepackt und das Problem in der Schweiz gelöst. Jede Generation hat eine solche, am Anfang scheinende kaum lösbare Aufgabe. Unsere Aufgabe ist die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie. Ich bin optimistisch, dass auch wir unsere Aufgabe lösen werden. Es braucht dafür aber die Einstellung des Kellner’s auf der Bettmeralp.

So hat der Kellner erkannt, dass auch er zur Zukunftsgestaltung auf der Alp wichtig ist. Solchen Einstellungen kunde ich Respekt und wünsche ihm, dass er am Schluss doch erfolgreich ist. Die Liebe und Leidenschaft zu Natur und Mensch wird uns Lösungen bringen, die heute noch nicht bekannt sind.

Auch hier in Buchs erlebe ich viele Menschen mit Leidenschaft, die bereit sind sich in Vereinen, in der Nachbarschaft oder sich für die Allgemeinheit zu engagieren. Und auch heute sind wieder viele Leute im Hintergrund am Arbeiten um die 1. Augustfeier zu ermöglichen. Dies ist ein Teil dieser wunderbaren Zivilgesellschaft Schweiz. Ihnen gilt ein herzliches Dankeschön.

Feiern wir heute zusammen in Buchs die Schweiz und vergessen dabei nicht: Die zentrale Frage ist nicht, was bietet mir Buchs, der Aargau, die Schweiz, sondern was kann ich für Buchs, den Aargau, die Schweiz, das Klima tun. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Nationalfeiertag.

 

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